Beweislast bei Haftung für Behandlungsfehler: liegt ein grober Behandlungsfehler vor und ist dieser grundsätzlich geeignet, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für den Eintritt des Schadens ursächlich war.
Die Beweislast bei Haftung aus Behandlungsverträgen für Behandlungsfehler ist (seit August 2013) im § 630h BGB geregelt. Nach dem im Schadenersatzrecht allgemein geltenden Grundsatz sind die Voraussetzungen eines Schadenersatzanspruches im Einzelnen darzulegen und im Streitfall zu beweisen. Beweispflichtig ist die Person, die sich auf die für sie günstigen Voraussetzungen beruft. Demzufolge muss der Patient den Abschluss eines Behandlungsvertrages, die fehlerhafte Behandlung durch den Behandelnden und damit die Pflichtwidrigkeit im Sinne des § 280 Absatz 1 sowie den aus dem Behandlungsfehler entstandenen Schaden beweisen. § 630h BGB regelt Ausnahmen von diesem Grundsatz.
- Ausnahme: Ein Behandlungsrisiko ist für den Behandelnden voll beherrschbar
(1) Ein Fehler des Behandelnden wird vermutet, wenn sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht hat, das für den Behandelnden voll beherrschbar war und das zur Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit, der sexuellen Selbstbestimmung oder eines sonstigen Rechts des Patienten geführt hat.
Wann liegt ein voll beherrschbares Behandlungsrisiko ist für den Behandelnden vor?
Ein Behandlungsrisiko ist für den Behandelnden voll beherrschbar, wenn es aus dessen Herrschafts- und Organisationsbereich herrührt und der Behandelnde den Patienten davor zu schützen hat. Dies sind Risiken, die nach dem Erkennen mit Sicherheit ausgeschlossen werden können. Unerheblich ist, inwieweit das Risiko konkret vermeidbar war. Auf die tatsächliche Vermeidbarkeit kommt es nicht an, sondern auf dessen tatsächliche Zuordnung zu dem Herrschafts- und Organisationsbereich des Behandelnden (BGH VersR 2007, 847).
Beispiele:
Das Hauptbeispiel ist der Einsatz medizinisch-technischer Geräte, die im Falle einer Fehlfunktion zu einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit des Patienten geführt haben. Denn es fällt allein in die Verantwortungssphäre des Behandelnden, die erforderlichen geeigneten technischen Voraussetzungen für einen sicheren, gefahrlosen und sachgemäßen Einsatz medizinischer Geräte zu gewährleisten.
Eine weitere Fallgruppe des voll beherrschbaren Risikos ist der Bereich der Organisation, etwa die Gewährleistung der hygienischen Standards und der Verrichtungssicherheit des Pflegepersonals. Tritt hier eine Infektion bzw. eine Schädigung auf, ist der Patient besonders zu schützen.
Wann führt das voll beherrschbare Behandlungsrisiko nicht mehr zur Vermutung eines Behandlungsfehlers?
Ein voll beherrschbares Risiko führt nicht mehr zur Vermutung eines Behandlungsfehlers, wenn sich zwar in dem von dem Behandelnden dem Grunde nach voll beherrschbaren Gefahrenbereich ein Risiko verwirklicht hat, bei dem aber zugleich eine andere, ggf. unbekannte oder nicht zu erwartende Disposition des Patienten „durchschlägt“, die diesen für das verwirklichte Risiko anfällig macht und dem Behandelnden damit die volle Beherrschbarkeit des Risikobereichs entzieht. In diesem Fall muss es bei der allgemeinen Regel bleiben, dass dem Patienten die volle Beweislast für die Pflichtverletzung obliegt (aus der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten des Bundesministeriums der Justiz und des Bundesministeriums für Gesundheit).
Was ist der Hintergrund der Regelung?
Grund für diese Regelung ist die besondere Schutzbedürftigkeit des Patienten, dem die Vorgänge aus dem Organisations- und Gefahrenbereich des Behandelnden regelmäßig verborgen bleiben. Daher muss sich der Patient darauf verlassen dürfen, der Behandelnde werde alles Erforderliche unternehmen, um den Patienten vor den mit der Behandlung verbundenen typischen Gefahren zu schützen (aus der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten des Bundesministeriums der Justiz und des Bundesministeriums für Gesundheit).
Was muss der Patient beweisen?
Damit die Vermutung des Absatzes 1 eingreift, muss der Patient zunächst beweisen, dass sich die Rechtsverletzung durch ein voll beherrschbares Behandlungsrisiko verwirklicht hat.
Was sind die Folgen?
Sind die Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt, wird zugunsten des Patienten vermutet, dass der Behandelnde seine medizinischen Behandlungspflichten verletzt hat. Der Behandelnde kann dann nach § 292 der Zivilprozessordnung (ZPO) die Vermutung durch den Beweis des Gegenteils entkräften. Dieser kann sowohl durch den vollen Beweis dafür erbracht werden, dass ein Behandlungsfehler, der die Pflichtverletzung begründet, nicht vorliegt als auch durch den Gegenbeweis gegen die Vermutungsbasis geführt werden. Im letzteren Fall genügt es, die Überzeugung des Richters vom Vorliegen des voll beherrschbaren Behandlungsrisikos zu erschüttern.
Was wird von der Vermutungsregelung nicht mit umfasst?
Weitere Beweislasterleichterungen, die über die Umkehr der Beweislast bezüglich des objektiven Pflichtverstoßes hinausgehen, enthält Absatz 1 nicht. Insbesondere sind Kausalitätsfragen vom Anwendungsbereich des Absatzes 1 nicht erfasst. Insofern verbleibt es bei den allgemeinen Regeln, dass die Beweislast beim Patienten liegt (BGH NJW 1994, 1594, 1595).
- Ausnahme: Anfängerfehler
(4) War ein Behandelnder für die von ihm vorgenommene Behandlung nicht geeignet oder nicht befähigt, wird vermutet, dass die mangelnde Eignung oder die mangelnde Befähigung für den Eintritt des Schadens ursächlich war.
Die Regelung entspricht der bisherigen Rechtsprechung zu den Anfängerfehlern (BGH VersR 1993, 1231, 1233).
Was ist der Hintergrund der Regelung?
Die Norm basiert auf § 630a Absatz 2, wonach derjenige, der eine medizinische Behandlung durch einen Behandelnden zusagt, die Behandlung unter Einhaltung der anerkannten fachlichen Standards schuldet. Bei Ärzten sind die medizinischen Standards eines durchschnittlichen Facharztes maßgeblich. War der Behandelnde für die von ihm vorgenommene Behandlung nicht geeignet oder nicht befähigt, so stellt bereits die Übertragung der Arbeiten auf diesen ungeeigneten Behandelnden einen Verstoß gegen den geschuldeten Facharztstandard dar. An der erforderlichen Befähigung fehlt es dem Behandelnden, soweit er nicht über die notwendige fachliche Qualifikation verfügt. Dies kommt insbesondere bei Behandelnden in Betracht, die sich noch in der medizinischen Ausbildung befinden oder die als Berufsanfänger noch nicht über die notwendige Erfahrung verfügen. Eine mangelnde Eignung kann weiterhin in den Fällen der körperlichen und/oder geistigen Überforderung vorliegen, wenn ein Behandelnder etwa einen operativen Eingriff nach einer 78-Stunden-Schicht vornehmen soll. Steht die mangelnde Eignung oder Befähigung eines Behandelnden fest und hat der Patient durch die Behandlung einen Schaden erlitten, so besteht eine Vermutung dafür, dass die mangelnde Eignung oder Befähigung für den aufgetretenen Schaden ursächlich ist (der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten des Bundesministeriums der Justiz und des Bundesministeriums für Gesundheit).
Was sind die Folgen?
Als Folge der Regelung obliegt es dem Behandelnden zu beweisen, dass die eingetretene Komplikation ihre Ursache nicht in der fehlenden Qualifikation, Übung oder Erfahrung des Behandelnden hat (BGH NJW 1992, 1560)."
- Ausnahme: grober Behandlungsfehler
(5) Liegt ein grober Behandlungsfehler vor und ist dieser grundsätzlich geeignet, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für den Eintritt des Schadens ursächlich war. Dies gilt auch dann, wenn es der Behandelnde unterlassen hat, einen medizinisch gebotenen Befund rechtzeitig zu erheben oder zu sichern, soweit der Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis erbracht hätte, das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte, und wenn das Unterlassen solcher Maßnahmen grob fehlerhaft gewesen wäre.
Was ist der Hintergrund der Regelung?
Der Bundesgerichtshof hat im Laufe der Zeit verschiedene Fallgruppen für das Institut des groben Behandlungsfehlers entwickelt, die zu einer besonderen Beweislastumkehr führen und künftig in Absatz 5 Satz 1 eine gesetzliche Regelung finden sollen. Die Regelung geht zunächst von dem allgemeinen Grundsatz aus, dass dem Patienten der Beweis der Kausalität einer fehlerhaften Behandlung für einen Schaden obliegt. Eine solche die Haftung begründende Kausalität zwischen einem Behandlungsfehler und dem eingetretenen Schaden ist dann gegeben, wenn der Schaden auf die festgestellte Fehlbehandlung zurückzuführen ist und wenn eine ordnungsgemäße, d. h. eine dem medizinischen Sollstandard entsprechende Behandlung den Schaden verhindert hätte. Mithin fehlt es an der Kausalität zwischen fehlerhafter Behandlung und Schaden, soweit der Schaden auch bei regelgerechter Behandlung eingetreten wäre. Bei groben Behandlungsfehlern soll der Patient von diesem Kausalitätsnachweis befreit werden (aus der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten des Bundesministeriums der Justiz und des Bundesministeriums für Gesundheit).
Was muss der Patient beweisen?
Dem Patienten obliegt die Beweislast hinsichtlich des groben Behandlungsfehlers und dessen Eignung, den konkreten Schaden herbeizuführen.
Wann liegt ein grober Behandlungsfehler vor?
Ein Behandlungsfehler ist grob, soweit ein medizinisches Fehlverhalten aus objektiver Sicht bei Anlegung des für den Behandelnden geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich erscheint, weil der Fehler gegen gesicherte und bewährte medizinische Erkenntnisse und Erfahrungen verstoßen hat und dem Behandelnden schlechterdings nicht unterlaufen darf (Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs in MedR 2004, 561; BGHZ 159, 48, 54; BGHZ 144, 296). Klassisches Beispiel ist, wenn im Rahmen eines operativen Eingriffs versehentlich ein anderes als das kranke Organ entfernt wird.
Wer entscheidet, ob der Behandlungsfehler grob ist?
Die abschließende Beurteilung der Frage, ob ein Behandlungsfehler tatsächlich grob in dem vorstehenden Sinn ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls und ist im Streitfall regelmäßig dem Tatrichter vorbehalten (BGH VersR 1983, 729, 730).
Was sind die Folgen?
Dem Behandelnden obliegt nach § 292 ZPO der Beweis dafür, dass der grobe Behandlungsfehler für den Primärschaden nicht ursächlich gewesen ist.
- Ausnahme: grober Diagnosefehler
Eine Fallgruppe des Absatzes 5 Satz 1 ist der grober Diagnosefehler.
Welcher Unterschied besteht im Verhältnis zum groben Behandlungsfehler?
Der grobe Diagnosefehler ist nur unter engen Voraussetzungen mit dem groben Behandlungsfehler gleichzusetzen (BGH VersR 1988, 293; VersR 1981, 1033; VersR 1992, 1263; VersR 2008, 644). Er ist erst dann gegeben, wenn die Fehlinterpretation eines Befundes aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint und dem Behandelnden schlechterdings nicht unterlaufen darf. Hat der Behandelnde zum Beispiel die Durchführung einer bestimmten Untersuchungsmethode versäumt und infolge dessen eine fehlerhafte Diagnose gestellt, muss er hierfür einstehen. Gleichwohl ist die Schwelle, von der ab ein Diagnoseirrtum als schwerer Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst zu beurteilen ist, der dann zu einer Belastung mit dem Risiko der Unaufklärbarkeit des weiteren Ursachenverlaufs führen kann, hoch anzusetzen.
- Ausnahme: grober Befunderhebungsfehler
Schließlich kann auch der grobe Verstoß gegen die den Behandelnden treffende Befunderhebungs- oder Befundsicherungspflicht den Tatbestand des Absatzes 5 Satz 1 erfüllen. Ist die Verletzung der Befunderhebungs- oder -sicherungspflicht als grob fehlerhaftes Vorgehen zu bewerten, so löst dieser grobe Fehler die Rechtsfolge des Absatzes 5 Satz 1 aus. Gleiches soll gemäß Absatz 5 Satz 2 in Fortführung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH VersR 1996, 633; VersR 1999, 1282, 1284) unter bestimmten Voraussetzungen auch für den Fall eines einfachen Befunderhebungs- oder -sicherungsfehlers gelten. Liegt zunächst nur ein einfacher Verstoß gegen die Befunderhebungs- oder - sicherungspflicht vor, bei dem sich jedoch im Falle der Erhebung des unterbliebenen Befundes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund offenbart hätte, der dringenden Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte und wäre in dieser Situation das Unterlassen der erforderlichen Maßnahmen als grob fehlerhaft zu würdigen, so führt dies ebenfalls zu einer Umkehr der Beweislast nach Maßgabe des Absatzes 5 Satz 1.
Was wird von der Regelung des § 630 h BGB nicht mit umfasst?
Eine über die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für die Rechtsgutsverletzung hinausgehende Beweislastumkehr ist von der Regelung des Absatzes 5 nicht erfasst. Insbesondere erstreckt sich die Beweislastumkehr grundsätzlich auch nicht auf die Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers für weitere (Folge-)Schäden (BGH VersR 2008, 644, 647).
Wie kann sich der Behandelnde entlasten?
Der Behandelnde kann sich entlasten, indem er beweist, dass der Behandlungsfehler nicht generell geeignet war, einen Gesundheitsschaden der eingetretenen Art herbeizuführen oder dass jeglicher Ursachenzusammenhang aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls äußert unwahrscheinlich war.