Der Irrtum eines Apothekers und die Zahlungsmoral eines Kunden, LSG Thüringen, 25.08.2015 - L 6 KR 375/12
Nach § 27a SGB V übernimmt die Krankenkasse lediglich 50 v.H. der mit dem Behandlungsplan genehmigten Kosten für die Maßnahme der künstlichen Befruchtung. Die restlichen 50% der Kosten trägt der Versicherte selbst. Der Eigenanteil ist vergleichbar dem Eigenanteil beim Zahnersatz nach § 55 SGB V. Das gilt auch für die verordneten Medikamente. Die Folge ist, dass auch der Apotheker nur einen Vergütungsanspruch in Höhe von 50 v.H. gegen die Krankenkasse hat. Den restlichen Anspruch kann er nur gegen seinen Kunden geltend machen.
Was passiert aber, wenn der Apotheker (ggf. sein Personal) aus Unkenntnis dieser 50/50 Regelung den Eigenanteil nicht berechnet (sondern nur die übliche Zuzahlung nach § 61 SGB V) und erst später beim Kunden einfordert? Steht ihm der Zahlungsanspruch zu? Welche Gerichtsbarkeit ist für die Klage auf Zahlung zuständig? Einen solchen Fall hat das LSG Thüringen, 25.08.2015 - L 6 KR 375/12 zu entscheiden.
Der Fall:
Die Klägerin ist Inhaberin der H. G. Apotheke. Die Beklagte (Kundin) legte in der Apotheke eine vertragsärztliche Verordnung nach § 27 a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) über die Arzneimittel Pergoveris merck TSub 10 ST N 2 und Gonal 900 I E/1,5 ml Injekt ILsg 2 ST N 1 vor. Zuvor in der Arztpraxis war die Beklagte über die gesetzlichen Grundlagen und der Übernahme des Eigenanteils in Höhe von 50 v.H. der Kosten aufgeklärt. Die Mitarbeiterin der Klägerin, die Zeugin A. K., händigte der Beklagten die verordneten Arzneimittel gegen Zahlung eines Betrages in Höhe von 20,00 EUR aus; der Eigenanteil der Kundin in Höhe von 501,37 EUR hat sie irrtümlich nicht gefordert. Die Beklagte hat insoweit keine Nachfragen gestellt. Im Erörterungstermin hat die Beklagte hierzu vorgetragen, es habe sich bei dem Rezept um das erste Rezept über Medikamente nach § 27a SGB V gehandelt und sie habe nicht gewusst, was die einzelnen Medikamente kosteten. Sie habe den ihr von der Zeugin K. genannten Betrag in Höhe von 20 EUR als Kosten für die Medikamente verstanden und diesen Betrag gezahlt. Sie habe nicht ausgeschlossen, dass sie möglicherweise noch eine Rechnung von ihrer Ärztin oder der Krankenkasse erhalte. Eine solche Rechnung erhielt sie selbstverständlich nicht.
Nachdem sich der Fehler herausgestellt hat, bat die Klägerin die Beklagte, den Betrag von 501,37 EUR zu zahlen. Sie lehnte dies ab.
Die Klägerin erhob beim Sozialgericht (SG) Gotha Zahlungsklage. Das SG hat zwar seine Zuständigkeit für die Zahlungsklage bejaht. Mit Gerichtsbescheid vom 9. Februar 2012 hat es die Klage als unbegründet abgewiesen und die Berufung zugelassen.
Die Berufung der Klägerin wies das LSG zurück.
Zum Klageweg vertritt das LSG die Auffassung, dass der Rechtsweg zu Sozialgerichten nicht eröffnet ist, vielmehr sind die Zivilgerichte für die Rechtsstreitigkeit zuständig.
Denn hier handelt es sich um eine privatrechtliche Rechtsstreitigkeit zwischen den Beteiligten. Der Vertragsarzt, der Leistungen der künstlichen Befruchtung nach § 27a SGB V erbringt, rechnet Leistungen der künstlichen Befruchtung in Höhe von 50 v.H. auf der Grundlage des EBM unmittelbar gegenüber dem nach § 27a SGB V anspruchsberechtigten Versicherten ab (§ 18 VIIIa BMV-Ä). Hierbei handelt es sich um einen privatrechtlichen Vergütungsanspruch, obwohl es sich bei Leistungen der künstlichen Befruchtung weiterhin um eine Sachleistung der GKV handelt. Nichts anderes kann daher bezüglich des Eigenanteils des Versicherten gegenüber dem Apotheker gelten. Rechtsgrundlage für den Zahlungsanspruch ist insoweit § 433 BGB.
Da das SG jedoch den Rechtsweg zu Sozialgerichten bejaht hat, ist der Senat hieran nach § 17 a Abs. 5 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) gebunden.
Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von 501,27 EUR.
Zwischen den Parteien ist ein Kaufvertrag zustande gekommen.
Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte erkannte oder bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen müssen, dass die Mitarbeiterin der Klägerin die Medikamente nicht zu diesem Preis abgeben wollte.
Bei der Abgabe des Angebots befand sich die Zeugin K in einem Irrtum. Sie hat übersehen, dass es sich um eine vertragsärztliche Verordnung nach § 27 a SGB V handelte, und hätte daher bei der Übergabe der Medikamente an die Beklagte nicht nur die gesetzliche Zuzahlung einziehen, sondern die Hälfte des Preises des Medikaments von ihr fordern müssen. Dieser Irrtum im Beweggrund (Motivirrtum), der ihr schon im Stadium der Willensbildung unterlaufen ist, ist von keinem der gesetzlich vorgesehenen Anfechtungsgründe (§ 119 BGB) erfasst. Er berechtigt grundsätzlich nicht zur Anfechtung, weil derjenige, der aufgrund einer für richtig gehaltenen, in Wirklichkeit aber unzutreffenden Berechnungsgrundlage einen bestimmten Preis oder eine Vergütungsforderung ermittelt und seinem Angebot zu Grunde legt, auch das Risiko dafür trägt, dass seine Kalkulation zutrifft (sogenannter Kalkulationsirrtum Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 7. Juli 1998 - Az.: X ZR 17/87).
Bei der genannten Risikoverteilung zulasten des Erklärenden bleibt es regelmäßig auch dann, wenn der Erklärungsempfänger - hier die Beklagte - den Kalkulationsirrtum des Erklärenden hätte erkennen können, ohne dass er ihn positiv erkannt hat. Dies ist hier aus den bereits oben genannten Gründen nicht der Fall. Es ist nicht ersichtlich, dass die Beklagte erkannte oder bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen müssen, dass die Mitarbeiterin der Klägerin die Medikamente nicht zu diesem Preis abgeben wollte.
Weitere Schwerpunkte der Entscheidung:
Die erstinstanzliche Entscheidung hat überdies an erheblichen Verfahrensmängeln, die jedoch durch die Entscheidung des LSG geheilt werden, gelitten. Denn das SG hätte nicht durch die Kammervorsitzende als Einzelrichterin mittels Gerichtsbescheides ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)) entscheiden dürfen, nachdem es die Berufung zuließ. Misst die Vorsitzende einer Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zu und lässt aus diesem Grunde die Berufung - wie hier - zu, so weist die Sache regelmäßig besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art auf und schließt eine Entscheidung als Einzelrichterin aus (BSG, Urteil vom 18. Mai 2010 - Az.: B 7 AL 43/08 R unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 16. März 2006 - Az.: B 4 RA 59/04 R). Die Folge war, dass den Beteiligten die vom Gesetz vorgegebenen gesetzlichen Richter, d.h. die Kammer in voller Besetzung, entzogen worden ist.
Stellungnahme:
Das LSG hat den Fall entsprechend den vom BGH für die Fälle eines Kalkulationsirrtums ausgestellten Grundsätzen gelöst. Danach gilt folgendes:
Außer in den in §§ 120, 123 BGB geregelten Fällen kann nach § 119 BGB eine Willenserklärung wegen Inhaltsirrtums (Auseinanderfallen von Wille und Erklärung; § 119 Abs. 1 1. Altern. BGB), wegen Erklärungsirrtums (§ 119 Abs. 1 2. Altern. BGB) oder wegen Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft der Person oder der Sache (§ 119 Abs. 2 BGB) angefochten werden, sofern der Erklärende die Willenserklärung bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde (§ 119 Abs. 1 2. Halbsatz BGB).
Von diesen Fällen ist ein (einseitigen) Kalkulationsirrtum zu unterscheiden. Dabei geht es um einen schon im Stadium der Willensbildung entstandenen Irrtum im Beweggrund (Motivirrtum). Dieser Irrtum ist nicht gesetzlich geregelt und berechtigt grundsätzlich nicht zur Anfechtung, weil derjenige, der aufgrund einer für richtig gehaltenen, in Wirklichkeit aber unzutreffenden Berechnungsgrundlage einen bestimmten Preis oder eine Vergütungsforderung ermittelt und seinem Angebot zugrunde legt, auch das Risiko dafür trägt, dass seine Kalkulation zutrifft (st. Rspr. BGH, Urt. v. 19.12.1985 - VII ZR 188/84).
Eine andere Lösung ist aber für die Fälle des Motivirrtums angebracht, wenn dieser vom Erklärungsempfänger positiv erkannt wurde. In diesen Fällen kann je nach Sachlage auf die allgemeinen Rechtsinstitute der Haftung für Verschulden bei Vertragsverhandlungen und der unzulässigen Rechtsausübung zurückzugreifen werden. Denn es kann eine unzulässige Rechtsausübung (§ 242 BGB) darstellen, wenn der Empfänger ein Vertragsangebot annimmt und auf der Durchführung des Vertrages besteht, obwohl er wusste, dass das Angebot auf einem Kalkulationsirrtum des Erklärenden beruht.
Allein die positive Kenntnis von einem Kalkulationsirrtum des Erklärenden genügt für die Annahme einer unzulässigen Rechtsausübung jedoch noch nicht. Ob ein Verhalten des Erklärungsempfängers treuwidrig ist, lässt sich nur anhand aller Umstände des Einzelfalls beurteilen. Dabei kommt – nach der Auffassung des BGH- dem Ausmaß des Kalkulationsirrtums wesentliche Bedeutung zu. Dies ist nur bei einem Irrtum von einigem Gewicht anzunehmen. Als mit den Grundsätzen von Treu und Glauben unvereinbar wird man die Annahme eines fehlerhaft berechneten Angebots nur dann ansehen können, wenn die Vertragsdurchführung für den Erklärenden schlechthin unzumutbar ist, etwa weil er dadurch in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten geriete. Dabei muss sich die Kenntnis des Erklärungsempfängers im maßgeblichen Zeitpunkt des Vertragsschlusses auch auf diese Umstände beziehen.
Der positiven Kenntnis eines Kalkulationsirrtums kann im Einzelfall gleichzustellen sein, wenn sich der Erklärungsempfänger einer solchen Kenntnis treuwidrig verschließt, indem er naheliegende Rückfragen unterlässt.
Nach diesen Maßstäben scheiterte der Einwand der unzulässigen Ausübung durch die beklagte Kundin bereits daran, dass sie sicherlich keine Kenntnis hatte, dass sich die klagende Apothekerin durch den Fehlbetrag in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würde (was auch tatsächlich nicht passiert ist).
Die Frage der Zahlungsmoral sei dahingestellt.