Sozialgericht Berlin, S 208 KR 2197/14, Urteil vom 29.09.2015 (rechtskräftig): § 2 Abs. 1 der Kinderreha-Richtlinien ist nicht gesetzeskonform, soweit eine positive Erwerbsprognose vorausgesetzt wird

Der Fall

Die Klägerin (Rentenversicherung) begehrt von der Beklagten (Krankenkasse) die Kostenerstattung für erbrachte Leistungen der Kinderrehabilitation nach § 14 SGB IX i. V. m. "Gemeinsamen Richtlinien der Träger der Rentenversicherung nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI für Kinderheilbehandlungen (Kinderrehabilitationsrichtlinien; Kinderreha-Richtlinien)" in der Fassung vom 17.12.2012 (im Folgenden: KiHB-RL). Nach der Auffassung der Klägerin, sei sie nicht zuständig, weil die nach § 2 KiRehaRL erforderliche Förderung der späteren Erwerbsstätigkeit der versicherten Person auf Grund der erheblichen Einschränkungen nicht zu vermuten gewesen sei.

Im § 2 KiRehaRL heißt es hierzu:

„(1) 1Kinderrehabilitationen werden für Kinder und Jugendliche erbracht, wenn hierdurch voraussichtlich eine erhebliche Gefährdung der Gesundheit beseitigt oder eine beeinträchtigte Gesundheit wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann und dies Einfluss auf die spätere Erwerbsfähigkeit haben kann.

…..“

Die Beklagte wies das Erstattungsbegehren zurück, weil nach ihrer Auffassung § 2 Abs. 1 der Kinderreha-Richtlinien den § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI in nicht gesetzeskonformer Weise einenge. Das Kriterium einer positiven Erwerbsprognose sei lediglich in § 2 Abs. 1 KiHB-RL enthalten, nicht aber in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI selbst. Der Verstoß gegen höherrangiges Recht mache die KiHB-RL insoweit unwirksam. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI hätten vorgelegen. Zur Zeit der Reha-Antragstellung sei davon auszugehen gewesen, dass durch eine Rehabilitationsmaßnahme die beeinträchtigte Gesundheit des Versicherten wesentlich gebessert werden konnte. Kinderrehabilitation könne ausschließlich Angehörigen von Versicherten erbracht werden, die die Voraussetzungen für Leistungen zur Rehabilitation durch die GRV nicht erfüllten, also naturgemäß nicht erwerbsfähig sein könnten.

Mit der Klage verfolgt die Klägerin ihr Erstattungsbegehren weiter. Die Klägerin macht Gesamtkosten in Höhe von 6.449,60 EUR geltend, die sich wie folgt zusammensetzen: - Behandlungskosten 28 Tage à 180,70 EUR = 5.059,60 EUR, - Unterbringungskosten für Begleitperson 28 Tage à 45,00 EUR = 1.260,00 EUR, - Reisekosten = 130,00 EUR.

Das Gericht wies die Klage ab. Auch nach seiner Auffassung ist § 2 Abs. 1 S. 1 KiHB-RL nicht verbindlich, soweit bei einer Kinderrehabilitation im Sinne des § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB VI ein möglicher Einfluss auf die spätere Erwerbsfähigkeit gefordert wird. Ein Rentenversicherungsträger kann eine stationäre Heilbehandlung nicht deshalb ablehnen, weil durch die Behandlung die spätere Erwerbsfähigkeit des Betroffenen nicht beeinflusst werden kann.

„Die Erbringung der Leistungen nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI steht sowohl hinsichtlich des "Ob" als auch hinsichtlich des "Wie" der Erbringung im Ermessen des Rentenversicherungsträgers. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften bewirken die Selbstbindung der Verwaltung und geben dem Anspruchsberechtigten einen Anspruch auf Gleichbehandlung. Hat ein Versicherungsträger über die Gewährung von Ermessensleistungen Richtlinien erstellt, so ist die Verwaltung bei ihrer im Einzelfall zu treffenden Entscheidung hieran grundsätzlich gebunden. Die Verwaltung übt ihr Ermessen im Allgemeinen dann fehlerfrei aus, wenn ihre Entscheidung dem objektiven Inhalt der in den Richtlinien festgelegten Normen entspricht. Eine solche Rechtswirkung im Außenbereich setzt jedoch voraus, dass durch die Richtlinien selbst die Grenzen des Ermessens eingehalten sind und von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Insbesondere dürfen bei einer Ermessensentscheidung keine Gesichtspunkte tatsächlicher oder rechtlicher Art berücksichtigt werden, die nach Sinn und Zweck des zu vollstreckenden Gesetzes oder aufgrund anderer Rechtsvorschriften oder allgemeiner Rechtsgrundsätze dabei keine Rolle spielen dürfen.

Nach Auffassung der Kammer sind diese an Verwaltungsvorschriften zu stellenden Voraussetzungen hinsichtlich des § 2 Abs. 1 Satz 1 KiHB-RL nicht erfüllt mit der Folge, dass die Prognose eines nicht anzunehmenden positiven Einflusses der Maßnahme auf die spätere Erwerbsfähigkeit die Rentenversicherungsträger nicht dazu berechtigt, die Bewilligung einer Maßnahme abzulehnen. Aufgrund der Erfüllung der weiteren Voraussetzungen auch der KiHB-RL bestand vielmehr ein Leistungsanspruch gegen die Klägerin. Das Erfordernis eines voraussichtlichen, positiven Einflusses der Rehabilitationsleistung auf die spätere Erwerbsfähigkeit des Kindes ist eine sachfremde Erwägung und entspricht nicht dem Zweck der Ermessensermächtigung in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI. Der Gesetzgeber hat im Unterschied zu § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGB VI in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI darauf verzichtet, einen Bezug zur Erwerbsfähigkeit herzustellen. Verzichtet der Gesetzgeber aber auf die Normierung einer bestimmten Voraussetzung, kann nicht gerade diese Voraussetzung bei der Ermessensentscheidung maßgeblich sein. Schließlich soll dieser Aspekt nach dem Willen des Gesetzgebers gerade keine Rolle spielen. Es kann angesichts der Entscheidung des Gesetzgebers auch nicht der Zweck der gesetzlichen Regelung darin bestehen, die Erwerbsfähigkeit der Betroffenen positiv zu beeinflussen.

Insoweit folgt das Sozialgericht nicht der Auffassung von Haack in: juris-PK SGB VI, 2. Auflage 2013, § 31 Rn. 33 und  Oberscheven, in: GK-SGB VI, Stand: 180. Ergänzungslieferung Januar 2013, § 31 Rn. 101a). Die dauerhafte Erwerbsfähigkeit der Versicherten soll danach die Erwirtschaftung der für die Rentenleistungen nötigen Beiträge während der Erwerbstätigkeit sichern. Außerdem solle Haack zufolge mit § 31 SGB VI den Rentenversicherungsträgern ermöglicht werden, Kinderheilbehandlungen unter denselben Voraussetzungen und in demselben Umfang wie auf der Grundlage des § 1305 RVO (§ 84 AVG) durchzuführen.

In systematischer Hinsicht stellt das Sozialgericht zunächst fest, dass § 9 Abs. 1 SGB VI die Aufgabe bzw. den Zweck der "Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ergänzende Leistungen" und damit der Leistungen gemäß dem Zweiten und Dritten Titel des Zweiten Unterabschnitts im Ersten Abschnitt des Zweiten Kapitels des SGB VI beschreibt und damit gerade nicht die "Sonstigen Leistungen" (Fünfter Titel; § 31 SGB VI).

Das mag insoweit nachvollziehbar sein, als es in § 31 SGB VI zum Teil gerade nicht um "Versicherte" geht, von denen in § 9 SGB VI die Rede ist. Eine entsprechende Anwendung wird freilich nicht angeordnet und auch sonst kein Bezug zu dieser Norm hergestellt. Dies gilt auch für § 10 SGB VI. Vielmehr wird in § 31 Abs. 2 Satz 1 SGB VI bezüglich der Kinderheilbehandlungen ausdrücklich (lediglich) die Einhaltung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen durch den Versicherten, d.h. bei Kindern durch einen Elternteil, verlangt. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ("zur Eingliederung von Versicherten in das Erwerbsleben" sowie Erfüllung der persönlichen Voraussetzungen des § 10 SGB VI gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 SGB VI) und Nr. 2 SGB VI ("zur Sicherung der Erwerbsfähigkeit) knüpfen hingegen an die Erwerbsfähigkeit an. Hinsichtlich § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V (Nach- und Festigungskuren wegen Geschwulsterkrankungen für Versicherte, Bezieher einer Rente sowie ihre Angehörigen) ist es einhellige Meinung, dass – auch bei Kindern – eine etwaige Auswirkung auf die Erwerbsfähigkeit nicht erforderlich ist ("Gemeinsamen Richtlinien der Träger der Rentenversicherung nach § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 für die Erbringung von onkologischen Nachsorgeleistungen bei malignen Geschwulst- und Systemerkrankungen (Ca-Richtlinien)").

Zu den Leistungen nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI zählt überdies auch die stationäre Heilbehandlung von Beziehern einer Rente wegen Alters. Solche Leistungen entsprechen offensichtlich erst recht nicht dem Ziel, die Erwerbsfähigkeit (und damit die Beitragszahlung) dieser Gruppe zu beeinflussen.

Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich nach Auffassung der Kammer ebenfalls, dass ein positiver Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit des Kindes weder Zweck der Regelung noch Leistungsvoraussetzung sein sollte. In der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992 — RRG 1992) heißt es: "[§ 31] Absatz 1 Nr. 4 ermöglicht dem Rentenversicherungsträger, Kinderheilbehandlungen unter denselben Voraussetzungen und in demselben Umfang wie bisher durchzuführen" (BT-Drucks. 11/4124, S. 160). Damit nahm der Gesetzgeber Bezug auf die vorhandenen gesetzlichen Regelungen in § 1305 Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 84 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) in der Fassung des Gesetzes vom 04.11.1982 ("Sozialgesetzbuch (SGB) – Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten", BGBl. I, S. 1450) mit Wirkung vom 01.01.1983. Ein Verweis auf existierende Richtlinien findet sich nicht. § 1305 Abs. 1 RVO sah vor, dass der Träger der Rentenversicherung Mittel der Versicherung aufwenden könne, um allgemeine Maßnahmen oder Einzelmaßnahmen zur Erhaltung oder zur Erlangung der Erwerbsfähigkeit der Versicherten und ihrer Angehörigen oder zur Hebung der gesundheitlichen Verhältnisse der versicherten Bevölkerung zu fördern oder durchzuführen (Satz 1). Ferner konnten Kinderheilbehandlungen sowie Nach- und Festigungskuren wegen Geschwulsterkrankungen Angehörigen von Versicherten erbracht werden, wenn hierdurch eine erhebliche Gefährdung der Gesundheit beseitigt oder eine beeinträchtigte Gesundheit wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann, Kinderheilbehandlungen jedoch nur in dem zahlenmäßigen Umfang, in dem diese Leistungen im Jahr 1981 durchgeführt worden sind (Satz 2). § 84 AVG enthielt eine entsprechende Regelung. Während Satz 1, 1. Fall der gesetzlichen Regelung an die Erwerbsfähigkeit anknüpfte, war für Leistungen der Kinderrehabilitation nach § 1305 Abs. 1 Satz 2 RVO erkennbar nur die Gesundheit Anknüpfungspunkt.

Der Gesetzesbegründung ist auch nicht zu entnehmen, dass die Leistungen für Angehörige von Versicherten unter denselben Voraussetzungen, unter denen Versicherte selbst Leistungen zur Rehabilitation erhalten konnten, möglich sein sollten. Vielmehr sollten die Voraussetzungen "grundsätzlich" den Voraussetzungen für die Leistungen gegenüber den Versicherten entsprechen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf, BT-Drucks. 9/1753, S. 45). Der fehlende Bezug zur Erwerbsfähigkeit hinsichtlich der Kinderheilbehandlungen war demgemäß als bewusste Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Leistungsvoraussetzungen den Voraussetzungen, unter denen Leistungen gegenüber den Versicherten gewährt wurden, entsprechen sollten, zu erkennen“.

Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen, diese wurde jedoch nicht eingelegt.