Was bedeutet eine individuelle Beratung gemäß § 106 Abs. 5e SGB V, Sozialgericht München, Urteil v. 08.12.2015 – S 28 KA 1344/14
Ausgestaltung der Beratung über Fragen der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent:
§ 106 Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) regelt den Ablauf von Wirtschaftlichkeitsprüfungen in der vertragsärztlichen Versorgung und u.a. die Beratung der Vertrags(zahn)ärzte durch Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen. Dort heißt es hierzu:
„ (1a) In erforderlichen Fällen berät die in Absatz 4 genannte Prüfungsstelle die Vertragsärzte auf der Grundlage von Übersichten über die von ihnen im Zeitraum eines Jahres oder in einem kürzeren Zeitraum erbrachten, verordneten oder veranlassten Leistungen über Fragen der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung.
……
(5a) Beratungen nach Absatz 1a bei Überschreitung der Richtgrößenvolumen nach § 84 Abs. 6 und 8 werden durchgeführt, wenn das Verordnungsvolumen eines Arztes in einem Kalenderjahr das Richtgrößenvolumen um mehr als 15 vom Hundert übersteigt und auf Grund der vorliegenden Daten die Prüfungsstelle nicht davon ausgeht, dass die Überschreitung in vollem Umfang durch Praxisbesonderheiten begründet ist (Vorab-Prüfung). … Bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 vom Hundert hat der Vertragsarzt nach Feststellung durch die Prüfungsstelle den sich daraus ergebenden Mehraufwand den Krankenkassen zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist.
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(5e) Abweichend von Absatz 5a Satz 3 erfolgt bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent eine individuelle Beratung nach Absatz 5a Satz 1. Ein Erstattungsbetrag kann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeitraum nach der Beratung festgesetzt werden. Dies gilt entsprechend, wenn ein Vertragsarzt die ihm angebotene Beratung abgelehnt hat. Im Rahmen der Beratung nach Satz 1 können Vertragsärzte in begründeten Fällen eine Feststellung der Prüfungsstelle über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten beantragen. Eine solche Feststellung kann auch beantragt werden, wenn zu einem späteren Zeitpunkt die Festsetzung eines Erstattungsbetrags nach Absatz 5a droht“.
Sinn und Zweck der Regelung des § 106 Abs. 5e SGB V ist, Ärzte nach erstmaligem Überschreiten des Richtgrößenvolumens nicht unmittelbar einem - trotz der betragsmäßigen Begrenzung durch § 106 Abs. 5c Satz 7 SGB V wirtschaftlich belastenden - Regress auszusetzen, sondern ihnen über eine eingehende „Beratung“ zunächst ohne finanzielle Konsequenzen für die Praxis die Möglichkeit zu geben, ihr Verordnungsverhalten bei Arznei- und Heilmitteln zu modifizieren.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 106 Abs. 1a i. V. m. Abs. 5a Satz 1 und 2 SGB V hat die Prüfungsstelle hinsichtlich der Ausgestaltung der Beratung einen Ermessensspielraum; mit der Festsetzung einer Beratung sind jedoch grundsätzlich die an diese Maßnahme zu stellenden Anforderungen erfüllt, BSG, Urteil vom 05.06.2013, Az. B 6 KA 40/12 R.
Fraglich und bisher höchstrichterlich nicht entschieden ist, ob diese Rechtsprechung auch auf die Beratung bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent nach § 106 Abs. 5e übertragen werden kann mit der Folge, dass die Ausführungen im Widerspruchsbescheid eine individuelle Beratung im Sinne § 106 Abs. 5e SGB V darstellen. Das Sozialgericht München hat dies verneint.
Der Fall des Sozialgerichts München:
Im Rahmen einer ersten Richtgrößenprüfung setzte die Prüfungsstelle wegen Überschreitung des Richtgrößenvolumens für das Jahr 2006 i. H. v. 26,12% mit Prüfbescheid vom 17.12.2008 einen Regress in Höhe von 5.744,64 € gegen die beigeladene Vertragsärztin fest; gegen diesen legte die Beigeladene fristgerecht Widerspruch ein.
Mit Widerspruchsbescheid vom 08.07.2014 gab der Beklagte dem Widerspruch der Beigeladenen teilweise statt. Es wurde eine Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V ausgesprochen. Laut Widerspruchsbescheid erfolgte diese Beratung mit der Zustellung des Widerspruchsbescheides.
Die Klägerin, die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns, hat am 13.08.2014 Klage gegen den Widerspruchsbescheid zum Sozialgericht München erhoben. Die Klägerin ist der Auffassung, dass an eine individuelle Beratung gem. § 106 Abs. 5e SGB V höhere Anforderungen zu stellen sind als an eine „schriftliche Beratung“ nach § 106 Abs. 5a SGB V im Rahmen eines Maßnahmenfestsetzungsbescheids. Das Angebot einer individuellen Beratung setze voraus, dass die Prüfgremien auf die betroffenen Ärzte, sei es in schriftlicher oder mündlicher Form, zugingen und diesen eine Beratung, die speziell auf die jeweilige Praxis abgestimmt sei, zur Disposition stelle.
Die Klägerin hat beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 08.07.2014 insoweit aufzuheben, als dort entschieden wird, dass die ausgesprochene Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V mit Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolgt.
Der Beklagte folgt dieser Auffassung nicht und meint, dass die Durchführung einer Beratung, deren Gegenstand ein Verordnungsverhalten von vor neun Jahren sei, nicht zielführend sei. Der Beklagte habe den Zeitpunkt der individuellen Beratung davon abhängig zu machen, ob in dem erstinstanzlichen Bescheid Beratungspunkte aufgeführt gewesen seien oder nicht. Mangels Beratungspunkte im erstinstanzlichen Prüfbescheid sei vorliegend die Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V mit Versand des Widerspruchsbescheids am 08.07.2014 erfolgt. Damit genieße die Beigeladene Regressschutz.
Das Sozialgericht München gab der Klage statt.
Der Bescheid des Beklagten vom 08.07.2014 ist, soweit dort entschieden wurde, dass die ausgesprochene Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V mit Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolgt, rechtswidrig.
§ 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V verweist bezüglich der individuellen Beratung auf Abs. 5a Satz 1, der wiederum auf Abs. 1a Bezug nimmt. Danach berät in erforderlichen Fällen die in Absatz 4 genannte Prüfungsstelle die Vertragsärzte auf der Grundlage von Übersichten über die von ihnen im Zeitraum eines Jahres oder in einem kürzeren Zeitraum erbrachten, verordneten oder veranlassten Leistungen über Fragen der Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung.
Anders als die Beratungen nach Abs. 1a sind jedoch die Beratungen nach Abs. 5a und 5e zwingend durchzuführen.
Nach Auffassung des Sozialgerichts München kann die zu § 106 Abs. 1a i. V. m. Abs. 5a Satz 1 und 2 SGB V ergangene Rechtsprechung des BSG jedoch nur eingeschränkt auf § 106 Abs. 5e SGB V übertragen werden.
Denn anders als in § 106 Abs. 1a, 5a SGB V ist in § 106 Abs. 5e Satz 1 von einer „individuellen“ Beratung die Rede. Der Wortlaut spricht daher dafür, dass damit eine auf die speziellen Verhältnisse, insbesondere auf den speziellen (Beratungs-)Bedarf des Vertragsarztes gerichtete Beratung gemeint ist. Dass der Gesetzgeber eine über den „Festsetzungsbescheid mit Beratungsfunktion“ hinausgehende Beratung im Sinn hatte, ist auch den Regelungen des § 106 Abs. 5e Sätze 3 und 4 SGB V zu entnehmen. Satz 3 regelt die Frage der Festsetzung eines Erstattungsbetrages, „wenn ein Vertragsarzt die ihm angebotene Beratung abgelehnt hat“. Danach geht der Gesetzgeber jedenfalls davon aus, dass die Prüfungsstelle dem Vertragsarzt eine Beratung anbietet. Satz 4 räumt den Vertragsärzten die Möglichkeit ein, im Rahmen der Beratung nach Satz 1 in begründeten Fällen eine Feststellung der Prüfungsstelle über die Anerkennung von Praxisbesonderheiten zu beantragen. Diese Regelung kann nur Wirkung entfalten, wenn die Beratung bzw. das Beratungsangebot über die Kenntnisnahme eines Festsetzungsbescheids hinausgeht.
Auch der Gesetzesbegründung zum GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG), mit dem § 106 Abs. 5e SGB V eingeführt wurde, ist zu entnehmen, dass vor Festsetzung eines Regresses dem Vertragsarzt zumindest ein Beratungsangebot gemacht werden muss. Dort heißt es, dass „gemäß der Neuregelung in Absatz 5e die Festsetzung eines Erstattungsbetrages bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens eine vorherige Beratung oder zumindest ein Beratungsangebot voraussetzt“. Gemäß der Begründung soll bei erstmaliger Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 v. H. „kein Regress festgesetzt werden, bevor den betroffenen Vertragsärztinnen und -ärzten daraufhin nicht zumindest eine einmalige Beratung angeboten wurde“ (BT-Drs. 17/6906, S. 79).
Nach alledem ist dem Gesetzeswortlaut sowie der Gesetzesbegründung zu entnehmen, dass dem Vertragsarzt im Rahmen des § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V zumindest eine Beratung angeboten werden muss. Der Bescheid des Beklagten vom 08.07.2014, soweit dort entschieden wurde, dass die ausgesprochene Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V mit Zustellung des Widerspruchsbescheides erfolgt, wurde vom Sozialgericht München aufgehoben.
Konsequenzen für die Praxis:
An eine individuelle Beratung i. S. d. § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V (d.h. bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent) sind höhere Anforderungen zu stellen als an eine Beratung i. S. d. § 106 Abs. 1a i. V. m. Abs. 5a Satz 1 und 2 SGB V. Allein die Festsetzung einer Beratung im Rahmen eines Maßnahmenbescheides und die Kenntnisnahme durch den Vertragsarzt genügen nicht. Vielmehr muss die Prüfungsstelle dem Vertragsarzt die Möglichkeit zur Inanspruchnahme einer tatsächlichen, auf den speziellen (Beratungs-)Bedarf des Vertragsarztes ausgerichteten und auf den betroffenen Prüfungszeitraum bezogenen Beratung geben. Ob diese Beratung schriftlich oder mündlich erfolgt, liegt im Ermessen der Prüfungsstelle.